Newsletter und Analysen für die Neue Energiewelt seit 2003

Deindustrialisierung wegen CO₂-Bepreisung ist nur ein Mythos

Quelle: Süddeutsche Zeitung (Auflage: 391.894) Seite 17 Michael Bauchmüller

Originaltitel: Von wegen Exitus
Originaluntertitel: Im Streit um Klimaschutz warnte die Industrie einst vor Abwanderung. Es kam anders
Der europäischen Emissionshandel hat in den ersten sieben Jahren seit seiner Einführung 2005 nicht zur Abwanderung von Industrieunternehmen geführt, sagt eine RWI-Studie. Vielmehr sei das Sachanlagevermögen betroffener Firmen zwischen zehn und zwölf Prozent gewachsen. Die kostenlose Ausstattung mit Zertifikaten, auch das ein Ergebnis, war zu großzügig.
Der Industrieverband BDI habe das Bild einer schleichenden Abwanderung gemalt: Werde Europas Emissionshandel zu streng, könnten Großinvestitionen rasch das Weite suchen. So beschreibt die „Süddeutsche Zeitung“ die Stimmung kurz vor Einführung des europäischen Emissionshandels 2005. Doch von den Horrorszenarien sei keines eingetreten. „Eher schon das glatte Gegenteil.“ Forscher des Essener Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) seien Warnung und Wirklichkeit nachgegangen. Danach sei die Abwanderung von Industrieunternehmen in den ersten beiden Handelsperioden – also zwischen 2005 und 2012 – „sehr begrenzt, wenn nicht zu vernachlässigen“. Stattdessen hätten Firmen im Schnitt ihre Tätigkeit sogar ausgeweitet. Das Sachanlagevermögen betroffener Firmen sei zwischen zehn und zwölf Prozent gewachsen. Auch für Deutschland gebe es keine Hinweise auf schrumpfende Kapazitäten. Die RWI-Forscher hätten „statistische Zwillinge“ verglichen: Firmen, die vom Emissionshandel erfasst wurden, mit ganz ähnlichen Betrieben, die wegen kleiner Unterschiede in der Struktur ihrer Anlagen außen vor blieben. Zudem hätten sie Firmen untersucht, die international operieren und vergleichbare energieintensive Fertigung innerhalb und außerhalb der EU betreiben. „Interessanterweise haben diese betroffenen Unternehmen (...) in Reaktion auf den Emissionshandel ihre Anlagenbasis klar erhöht, so wie andere betroffene Unternehmen auch“, heiße es in der Studie, die bald in einer Fachzeitschrift veröffentlicht werde. Offenbar begrüßten viele Firmen die politische Stabilität, die mit dem Handelssystem verbunden ist – „verglichen mit der regulatorischen Unsicherheit der Klimapolitik in anderen Weltgegenden“. Die EU hatte der Industrie eine Reihe von Sonderregeln gewährt, etwa die kostenlose Ausstattung mit Zertifikaten. Andere Studien, zitiert die „Süddeutsche“ Nils aus dem Moore, einen der Autoren, legten aber nahe, dass der Kreis der Begünstigten womöglich noch zu groß sei. „Ein Schritt wäre, diesen Kreis noch einmal zu überprüfen.“ – Zu solchen Ausnahmen gebe es außerdem Alternativen, etwa den so genannten Grenzausgleich: Produkte von außerhalb der EU würden einen Preisaufschlag erhalten, der sich an ihrem CO₂-Fußabdruck bemisst und den Kosten für europäische Wettbewerber im Emissionshandel entspricht – ähnlich einem Zoll.
Erschienen am 05.03.2019
letzte Aktualisierung am 05.03.2019